Störungsbilder & Behandlungsmöglichkeiten
Störungen und Behandlung der Mund- und Gesichtsmuskulatur
(„Orofaziale Dysfunktion & Myofunktionelle Therapie“)
Bei einer orofazialen Dysfunktion handelt es sich um eine Störung des Muskelgleichgewichts im Gesichts- und Mundbereich. Kinder, die von einer solchen Störung betroffen sind, weisen oft eine offene Mundstellung auf bzw. atmen hauptsächlich durch den Mund statt durch die Nase. Häufig kann beim Atmen oder Sprechen die Zungenspitze oder der vordere Teil der Zunge gesehen werden, begleitet von Speichel, der sich in den Mundwinkeln sammelt oder in Extremfällen dort ausläuft. Zudem wirken Lippen, Zunge und Wangen kraftlos.
Es kann auch ein sog. „offener Biss“ auftreten, bei dem vordere oder seitliche Zähne des Ober- und Unterkiefers nicht aufeinandertreffen, wodurch die Zahnreihen nicht schließen.
Im Zuge der körperlichen Entwicklung im Mund- und Gesichtsbereich herrscht ein Gleichgewicht zwischen den sog. „festen Strukturen“ (Kiefer, Zähne, Gaumen) und den umliegenden Muskeln (Lippen, Wange, Zunge).
Veränderungen in einem oder mehrerer dieser Teilbereiche beeinflussen das Gesamtgleichgewicht nachteilig; mögliche Folgen sind Störungen der Muskelfunktionen im Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich (sog. „orofaziale Dysfunktionen“ bzw. „myofunktionelle Störungen“).
Das besagte Gleichgewicht ist im Wesentlichen abhängig vom Entwicklungsstand der nachfolgenden 5 Faktoren:
- 1) Die Atmung
- Grundsätzlich gilt: Die Einatmung durch die Nase (statt durch den Mund) ist für die Entwicklung der kindlichen Fähigkeiten im mundmotorischen Bereich von großer Bedeutung. Atmen Kinder durch die Nase ein tendieren Sie auch häufiger dazu, den Mund bzw. die Lippen geschlossen zu halten und diesen Zustand erst im Zuge der Ausatmung zu ändern (Mund- bzw. Lippenöffnung). Bereits diese Bewegungsabfolgen trainieren einen effektiven Mundschluss und begrenzen oder verhindern den unbeabsichtigten Austritt von Speichel oder der Zunge aus dem Mund.
- Darüber hinaus hat die o.g. „Nasenatmung“ auch eine gesundheitsfördernde bzw. krankheitsvorbeugende Funktion: Durch die Erwärmung, Anfeuchtung und Filterung der Einatemluft beim Passieren der Nasenhöhlen wird das Risiko der Aufnahme von Keimen und Krankheitserregern aus der Umwelt deutlich reduziert; Erkältungen oder grippale Infekte treten folglich seltener auf.
- 2) Der Schluckvorgang
- Das Schlucken wird meist auf die Funktion der Nahrungsaufnahme bzw. des Nahrungstransports reduziert, doch während des Schluckens geschieht insbesondere im Kindesalter so viel mehr: Die Schluckbewegungen „trainieren“ die Beweglichkeit und Kraft der Zunge und formen dabei auch den Oberkiefer aus.
- 3) Die Körperhaltung
- Beeinträchtigungen der Körperhaltung resultieren häufig in Muskelverspannungen, möglicherweise sogar in sog. „Verspannungsschmerzen“. Störungen des gesamtkörperlichen Muskelgleichgewichts wirken sich dabei jedoch nicht nur auf die Körperhaltung aus, sondern auch auf die Haltung und Muskelspannungsverhältnisse des Kopfes (insbesondere auf den Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich). Eine aufrechte Körperhaltung unterstützt auch die aufrechte Kopfhaltung, diese wiederum stellt die Basis für eine physiologische/optimale Beweglichkeit im gesamten Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich dar.
- 4) Die Zahn- und Kieferstellung
- Störungen der Entwicklung der Kiefer und/oder der Zähne können zu Verformungen oder Fehlstellungen im Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich führen, die in Beeinträchtigungen der Aussprache (z.B. undeutliches/verwaschenes Sprechen) und/oder Einschränkungen der Nahrungsaufnahme (z.B. Ausfließen der Nahrung über die Lippen oder Mundwinkel durch unvollständigen Lippenschluss) resultieren können. Eine normale Entwicklung und Stellung der Zähne und der Kiefer ist somit notwendig, um zu einer korrekten Aussprache und Nahrungsaufnahme zu gelangen, ggf. ist eine begleitende zahnärztliche bzw. kieferorthopädische Behandlung erforderlich.
- 5) Die Aussprache/Artikulation
- Eine fehlerfreie Aussprache wird maßgeblich von fein abgestimmten Bewegungen der Zähne, der Kiefer, der Lippen, der Zunge und der Wangen bestimmt. Liegt eine Schwäche (sog. „Hypotonie“) oder „Überspannung“ (sog. „Hypertonie“) der Mund- und Gesichtsmuskulatur vor, so kann es zu Störungen der Ausführung und/oder Koordination der o.g. Bewegungsabfolgen kommen, die wiederum die korrekte bzw. deutliche Aussprache negativ beeinflussen.
In Anlehnung an die vorherige Frage „Welche Faktoren beeinflussen die Entwicklung der Muskulatur im Mund- und Gesichtsbereich meines Kindes“ können die folgenden Faktoren ursächlich für die Ausprägung von Beeinträchtigungen der Mund- und Gesichtsmuskulatur sein und die gelisteten Auswirkungen nach sich ziehen:
- Schädigende Gewohnheiten
- Das Beißen auf die Lippen, das Nuckeln sowie das Lutschen bzw. Saugen am Daumen und/oder Gegenständen kann zu Verformungen der Kiefer, Veränderungen der Zahnstellung oder zu der Ausprägung eines falschen Schluckmusters führen.
- Vergleichbare Auswirkungen rufen Gewohnheiten wie das Nägelkauen oder das Zähneknirschen (nächtlich und/oder stressbedingt) im Jugendlichen- und Erwachsenenalter hervor. Die Folgen können dabei von Kopf-, Gesichts- oder Verspannungsschmerzen bis hin zu Schäden an den Zähnen oder dem Zahnersatz reichen; auch Auswirkungen auf das Kiefergelenk sind möglich.
- (Mund-)Atmung
- Eine vorwiegende Mundatmung sowie eine zeitlich längerfristig vorherrschende offene Mundstellung erhöhen das Infekt- und Erkältungsrisiko bei Kindern deutlich, da die „Schutzfunktion“ im Zuge der Nasenatmung (Reinigung und Erwärmung der Einatemluft sowie die Befeuchtung der Schleimhäute) entfällt und - im Rahmen der Mundatmung - somit Krankheitserreger direkteren bzw. ungefilterten Zugang zu den Schleimhäuten (hier insbesondere die Mund- und Rachenschleimhäute) erhalten.
- Darüber hinaus wird eine abgesenkte Zungenlage begünstigt, was in Störungen der Aussprache und des Sprechens resultieren kann.
- fehlerhafte Zungenposition beim Schlucken
- Im Zuge eines „normalen“ Schluckvorganges übt die Zunge für gewöhnlich Kraft gegen den Gaumen im Mundinneren aus und sorgt somit für einen effektiven (Weiter-)Transport der aufgenommenen Nahrung sowie für die Erzeugung eines „Unterdrucks“.
- Übt die Zunge jedoch eine Kraftwirkung in Richtung der (Front-)Zähne aus oder presst sogar zwischen diese, so wird der Mundschluss bzw. Zahnreihenschluss gestört und die Druckverhältnisse im Mundinneren verändern sich nachteilig (Erzeugung eines Unterdrucks nicht möglich). Als Folge ist der Transport von Speichel, Speisen und Getränken gestört; Reste können in den Wangentaschen, im Bereich der Zunge oder in den Mundwinkeln verbleiben. Mitunter kann es zeitweise auch dazu kommen, dass Speichel, Nahrung oder Flüssigkeiten über die Lippen bzw. an den Mundwinkeln austreten, da die Zunge bereits während der Nahrungsaufnahme zwischen die Zähne presst.
- Eine mögliche negative Langzeitwirkung des „Pressens“ der Zunge gegen und/oder zwischen die Zähne besteht im Verschieben von sich im Kindesalter noch entwickelnden Zähnen (insbesondere während der Entwicklung der „bleibenden“ Zähne) sowie in Verformungen der Kiefer.
- Beeinträchtigungen der Körperhaltung
- Körperliche Verspannungen können zu Erhöhungen der Muskelspannung in weiteren Bereichen wie z.B. der Nacken-, Hals-, Gesichts-, Kiefer- und Mundregion führen. Der verspannte Muskeltonus (sog. „Hypertonie“) bildet nunmehr die Grundlage für negative Folgeerscheinungen wie das Zähneknirschen oder „Zungenpressen“.
- Zahn- und Kieferfehlstellungen
- Schiefstände, Verformungen, Fehlstellungen oder Schäden der Zähne und/oder der Kiefer können angeboren (genetisch bedingt) sein, durch Unfälle verursacht oder durch schädigende Gewohnheiten (s.o.) hervorgerufen werden.
- Im Falle einer sog. „orofazialen Dysfunktion“ bzw. „myofunktionellen Störung“ können die Zähne durch eine fehlerhafte Zungenmotorik und/oder Zungenruhelage/-positionierung (Zunge presst gegen bzw. zwischen die Zähne) verschoben werden – es entsteht ein sog. „offener Biss“.
- Weitere Folgeerscheinungen umfassen u.a. die Beeinträchtigung der Aussprache und des Sprechens (insbesondere das sog. „Lispeln“, Fachbegriff „Sigmatismus“), eine verstärkte Mundatmung durch das Erschweren des Lippenschlusses mit der sich zwischen den Zähnen befindlichen Zunge sowie ein inkorrekter Schluckvorgang – beachten Sie hierzu auch die o.g. Punkte „(Mund-)Atmung“ und „fehlerhafte Zungenposition beim Schlucken“.
- fehlerhafte Bewegungen der Lippen und der Zunge beim Sprechen
- Eine dem jeweiligen Laut nicht angemessene Bewegung der Lippen und/oder der Zunge (z.B. die Hebung der Zungenspitze anstelle des Zungenrückens bei dem Sprechen des Lautes „k“, welches diesen wie den Laut „t“ klingen lässt) im Zuge der Lautbildung bewirkt eine Störung der Aussprache bzw. des Sprechens.
- Die am häufigsten von Aussprachestörungen betroffenen Laute umfassen u.a. folgende Laute: s / sch / ch / t / d / k / g / l / n.
Generell kann jede/r Ärztin/Arzt eine logopädische Behandlung für Ihr Kind verordnen; im Falle einer vorliegenden „orofazialen Dysfunktion“ bzw. „myofunktionellen Störung“ kann jedoch das Aufsuchen eines Facharztes aus dem entsprechenden Behandlungsfeld sinnvoll sein.
Die nachfolgenden Facharztgruppen können für Sie und Ihr Kind sinnvolle Ansprechpartner darstellen:
- Hals-Nasen-Ohren-Ärzte
- HNO-Ärzte untersuchen Ihr Kind unter dem Aspekt der Entwicklung seiner Mundhöhle, Nasen- und Nasennebenhöhlen sowie der Gehörgänge.
- Zahnmediziner/Zahnärzte
- Der Fokus der Untersuchungen liegt hier auf der Entwicklung der Strukturen der Mundhöhle, u.a. spielen auch die Bereiche der Zahnerhaltung, Kiefergelenksbehandlung sowie der Prothetik (Zahnersatz) eine Rolle. Zudem erhalten Sie Beratungen zu den Themen Zahnpflege und Kariesvorbeugung.
- Kieferorthopäden
- Schwerpunkte der Diagnostik und Behandlung Ihres Kindes stellen hier die Korrekturen von Zahn- und Kieferfehlstellungen dar, meist unter Verwendung von losen oder festen Zahnspangen.
Sofern der behandelnde Arzt eine Störung der Aussprache oder eine Beeinträchtigung der Mund- und Gesichtsmuskulatur feststellt, kann durch ihn eine (zusätzlich zu seiner stattfindenden Behandlung) logopädische Therapie verordnet werden.
Bitte beachten Sie in diesem Zusammenhang das folgende, für die Verordnung einer logopädischen Behandlung wichtige, Detail: Zahnärzte bzw. Kieferorthopäden können keine „reine“ Sprachtherapie verordnen – das bedeutet: Falls Ihr Kind Laute fehlerhaft bildet, dafür allerdings keine Störung der Lippen- bzw. Zungenmuskulatur oder eine Zahnfehlstellung verantwortlich ist, so obliegt die Verordnung einer logopädischen Behandlung dem Haus- oder Kinderarzt.
Es bestehen derzeit keine gesetzlichen Verpflichtungen bzw. Vorgaben der Krankenkassen bezüglich der sprachtherapeutischen Behandlung kindlicher Sprachentwicklungsstörungen.
Es liegt jedoch in Ihrem eigenen Interesse bzw. dem Interesse Ihres Kindes, eine logopädische Therapie durchführen zu lassen – nicht nur ist eine Behandlung von Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen nach Beendigung des 18. Lebensjahres nicht mehr kostenfrei (Personen sind ab diesem Zeitpunkt „zuzahlungspflichtig“, siehe „Kosten einer logopädischen Therapie“), auch können sich die vorliegenden Störungen verfestigen und weitere Spätfolgen nach sich ziehen.
Neben hörbaren Einschränkungen der Aussprache (häufig durch „Lispeln“) können die Strukturen des Mundes, allen voran die Zahnstellungen, beeinträchtigt werden, was ggf. zur Notwendigkeit langfristiger kieferorthopädischer Behandlungen führt.
Insbesondere in Anbetracht von späteren zahnärztlichen und kieferorthopädischen Eingriffen sollte dieser Aspekt bedacht werden, bevor Sie sich gegen eine Behandlung entscheiden.
Wenn Ihnen bei Ihrem Kind eine Störung der Entwicklung im Bereich der Mund- und Gesichtsmuskulatur auffällt ist es - generell gesprochen - sinnvoll, eine möglichst zeitnahe logopädische Behandlung anzustreben.
Bereits im Kita- und Vorschulalter können mundmotorische Übungen parallel zur Sprach- und Sprechtherapie erfolgen; so werden schädigende Gewohnheiten reduziert, die (Selbst-)Wahrnehmung der Kinder trainiert und die Aussprache positiv beeinflusst – auch ein frühzeitiges Schlucktraining ist möglich.
Eine begleitende Elternberatung und Übungsanleitung ist Teil der logopädischen Behandlung in meiner Praxis.
Die Häufigkeit, Dauer und Intensität der Therapie orientiert sich am Ausprägungsgrad der vorliegenden Störung sowie am Alter und der Konzentrationsfähigkeit Ihres Kindes.
Je nach der konkret vorliegenden Symptomatik umfasst die logopädische Behandlung zumeist die folgenden Therapieschwerpunkte:
- den Abbau schädigender Gewohnheiten (z.B. Daumenlutschen, Lippenbeißen, Zähneknirschen etc.)
- die Durchführung von Kraft- und Bewegungsübungen zum Training der Mundmuskulatur
- die Korrektur der Mundatmung und Erarbeitung der physiologischeren Nasenatmung
- die Förderung der Wahrnehmung im Mund- und Gesichtsbereich
- die Stabilisierung der Körperhaltung und -spannung (und daraus resultierend der Kopfhaltung und Muskelspannung im Mund- und Gesichtsbereich)
- die Behandlung bzw. Korrektur der fehlerhaften Lautbildung / undeutlichen Aussprache
- die Korrektur des fehlerhaften Schluckprozesses
Wenn Sie bzw. Ihr Kind häusliche Übungen nach der Therapie erhalten empfehle ich diese gemeinsam und in einer ruhigen bzw. störungsarmen Umgebung durchzuführen. Meist benötigen Sie für die Übungen nur ca. 10-15 Minuten Zeit und das gemeinschaftliche Lernen bindet Sie als Eltern indirekt in das Therapiegeschehen ein – so sind auch Sie immer auf dem neuesten Stand und Ihr Kind wird Spaß daran haben, Ihnen etwas Neues zeigen zu können.
Ebenso wichtig ist die Verdeutlichung des Ziels der Übungen: Es ist durchaus sinnvoll, dass auch Sie als Eltern Ihrem Sohn oder Ihrer Tochter die Bedeutung der Übungen für deren alltägliche Verständlichkeit nahelegen. Es geht nicht darum, für die Therapie bzw. den Therapeuten zu üben, sondern in erster Linie für sich selbst.
Ein Beispiel für eine solche Verdeutlichung wäre die Betonung der Bedeutung der Übungen für die Korrektur der Aussprache sowie für die Gesundheit der Zähne.
Schließlich kann es nicht schaden, eine kleine Belohnung für die Erfüllung einer Aufgabe bereitzuhalten; jedoch sollte diese stets in einem angemessenen Umfang erfolgen, damit nicht ausschließlich „für die Belohnung“ geübt wird.
Wichtig ist, dass im Falle des Misslingens einer Übung diese erneut versucht wird; weisen Sie Ihr Kind ggf. darauf hin, wenn ihm ein Fehler bei der Durchführung der Übungen passiert. Achten Sie dabei auf ein „ausgewogenes Maß“: Zu häufig stattfindende Hinweise auf Fehler können demotivierend wirken, während das Fehlen von Hinweisen ebenfalls ungeeignet ist, da Kinder auf eine Rückmeldung der Personen ihres Umfeldes angewiesen sind, um eventuelle Fehler zu bemerken.
Es kann etwas Zeit in Anspruch nehmen, um dieses „Gleichgewicht“ zu finden, allerdings ist es für die Entwicklung Ihres Kindes innerhalb und außerhalb der Therapie von tragender Bedeutung.