Störungsbilder & Behandlungsmöglichkeiten
Sprach- und Sprechstörungen nach Schädigungen des Zentralnervensystems („Dysarthrie“)
Das Sprechen stellt ein Zusammenwirken von Bewegungen in den Bereichen der Atmung, der Stimmgebung und der Artikulation (Aussprache) dar; diese Kooperation wird zentral vom Gehirn gesteuert.
Nachfolgend erhalten Sie einen kurzen Überblick zur „Abfolge“ bzw. zu dem Kreislauf des Sprechvorganges:
- Atmung
- Luft wird eingeatmet, wodurch sich die Stimmlippen im Inneren des Kehlkopfes öffnen, um die Luft zur Lunge vordringen zu lassen.
↓
- Luft wird eingeatmet, wodurch sich die Stimmlippen im Inneren des Kehlkopfes öffnen, um die Luft zur Lunge vordringen zu lassen.
- Stimmgebung
- Nachdem die Luft eingeatmet wurde schließen sich die Stimmlippen wieder. Daraufhin wird der Ausatemstrom dosiert abgegeben, was die Stimmlippen in Schwingung versetzt – als Folge können verschiedene Töne erzeugt werden.
↓
- Nachdem die Luft eingeatmet wurde schließen sich die Stimmlippen wieder. Daraufhin wird der Ausatemstrom dosiert abgegeben, was die Stimmlippen in Schwingung versetzt – als Folge können verschiedene Töne erzeugt werden.
- Artikulation/Aussprache
- Unter Verwendung der „Sprechwerkzeuge“ (Zunge, Lippen, Kiefer, Gaumensegel etc.) werden die Töne - je nach Absicht des Sprechers - zu bestimmten Sprachlauten ausgeformt.
↓
- Unter Verwendung der „Sprechwerkzeuge“ (Zunge, Lippen, Kiefer, Gaumensegel etc.) werden die Töne - je nach Absicht des Sprechers - zu bestimmten Sprachlauten ausgeformt.
- Atmung
- ↓
- Stimmgebung
- ↓
- ...
Bei einer Dysarthrie handelt es sich um eine nicht-angeborene Störung des Sprechvorgangs im Zuge einer Beeinträchtigung der Muskelkoordination mit Auswirkungen im Gesichts-, Mund- und Halsbereich, bedingt durch Schädigungen des zentralen Nervensystems.
Das Sprachverständnis ist nicht betroffen, jedoch können Stimme und Atmung in Mitleidenschaft gezogen sein, der Fachbegriff lautet dann „Dysarthrophonie“.
Bitte bedenken Sie: Personen, die an einer „reinen“ Dysarthrie (ohne zusätzliche Erkrankungen) bzw. deren Folgen leiden, sind weder in ihrer Intelligenz noch in ihrem Denkvermögen beeinträchtigt.
Eine Dysarthrie als neurologisch bedingte Sprechstörung kann durch eine hirnorganische Schädigung (z.B. einen Schlaganfall, ein Schädel-Hirn-Trauma, Tumore) verursacht werden oder aus einer fortschreitenden Erkrankung des Nervensystems (z.B. Morbus Parkinson, Multiple Sklerose, Chorea Huntington, ALS etc.) resultieren.
Menschen aller Altersgruppen können betroffen sein.
Die Häufigkeit des Auftretens sowie der Ausprägungsgrad individueller Symptome ist patientenabhängig; ein kombiniertes Auftreten mehrerer Symptome ist möglich.
Im Falle einer Dysarthrie können die nachfolgenden Symptome in Erscheinung treten:
- Beeinträchtigungen der Gesichts- und Mundmuskulatur
- In vielen Fällen wirkt die Mimik der Betroffenen „ausdrucksarm“, was auf einen verkrampften (sog. „hypertonen“) oder erschlafften (sog. „hypotonen“) Zustand der Gesichtsmuskeln zurückführbar ist. Der vollständige Mundschluss ist oftmals nicht möglich, wodurch Speichel unkontrolliert aus den Mundwinkeln oder über die Lippen austreten kann; auch die Mundöffnung kann erschwert sein.
- Einschränkungen der Atmung
- Die Atmung eines Dysarthrikers ist häufig gekennzeichnet von einem höheren Luftverbrauch, da die beeinträchtigte Muskulatur dazu führt, dass die Stimmlippen im Kehlkopf nicht vollständig schließen – als Resultat entweicht die eingeatmete Luft wieder über Mund und Nase, bevor sie zum Sprechen genutzt werden kann. Die Betroffenen atmen deshalb kürzer und häufiger (flach), was einen stärkeren Kraftaufwand bedeutet – als Folge wirken Dysarthriker erschöpft.
- Störungen der Stimmgebung
- Die Stimme klingt meist heiser, rau bzw. gepresst und/oder verhaucht; die Sprechlautstärke, die Stimmlage und der Tonhöhenumfang (der Sprech- und Singstimme) sind reduziert.
- Beeinträchtigungen der Stimme/Sprechmelodie
- Die zu Grunde liegende Störung der Atem-Sprech-Koordination verursacht einen verlangsamten Sprechvorgang mit vermehrten Pausen, Dehnungen und/oder monotonem Stimmklang.
- Beeinträchtigungen der Aussprache/Artikulation
- Die Aussprache der Betroffenen weist Undeutlichkeiten auf (klingt „verwaschen“), hinzu kommt eine Veränderung des Sprechklangs (nasal). Je nach den sonstig vorliegenden Symptomen ist eine generelle Verringerung der Verständlichkeit möglich.
Als Folge einer Hirnschädigung bzw. einer Schädigung des zentralen Nervensystems ist unter Umständen nicht nur das Sprechen beeinträchtigt; es ergeben sich häufig weitere Auswirkungen für die Gesundheit und den Alltag der Betroffenen:
- Lähmungserscheinungen (oft halbseitig, meist das Gesicht oder den Körper (Arme, Beine) betreffend)
- ein gesteigertes Risiko für das Auftreten einer Epilepsie (Krampfanfälle)
- Einschränkungen der (körperlichen) Wahrnehmung
- Beeinträchtigungen der Bewegungsplanung/-koordination beim Sprechen (sog. „Sprechapraxie“)
- Störungen der Konzentration, der Aufmerksamkeit und der Merkfähigkeit
- die parallele Ausbildung einer Schluckstörung (sog. „Dysphagie“)
- der Rückzug aus dem sozialen Umfeld
Es bestehen derzeit keine gesetzlichen Verpflichtungen bzw. Vorgaben der Krankenkassen bezüglich der sprachtherapeutischen Behandlung von Störungen der Sprache und des Sprechens nach Schädigung des Zentralnervensystems (hier: Dysarthrie).
Es liegt jedoch in Ihrem eigenen Interesse bzw. dem Interesse Ihres/r Angehörigen, eine logopädische Therapie durchführen zu lassen – beachten Sie bitte in diesem Zusammenhang die Zuzahlungspflicht des Patienten (Personen sind ab Vollendung des 18. Lebensjahres „zuzahlungspflichtig“, siehe „Kosten einer logopädischen Therapie“), sofern dieser nicht bereits von der Zuzahlung befreit ist; alternativ ist es möglich, eine solche Befreiung auch nachträglich bei der zuständigen Krankenkasse zu beantragen.
Erfolgt keine logopädische Behandlung können sich die vorliegenden Symptome verfestigen und weitere Spätfolgen nach sich ziehen. Neben deutlichen Einschränkungen des Sprechablaufes und der Aussprache kann es auch zum sozialen Rückzug kommen, da die Betroffenen möglicherweise wegen ihrer Beeinträchtigung nicht in der Öffentlichkeit unterwegs sein wollen.
Insbesondere in Anbetracht des möglichen Verlusts der Selbstständigkeit der Betroffenen sollte dieser Aspekt bedacht werden, bevor Sie sich gegen eine Behandlung entscheiden.
Wenn Ihnen bei sich selbst bzw. bei Ihrem/r Angehörigen Symptome einer Dysarthrie auffallen ist es - generell gesprochen - sinnvoll, eine möglichst zeitnahe logopädische Behandlung anzustreben und eine Kontrolluntersuchung durch einen Neurologen bzw. Facharzt durchführen zu lassen (sofern dies nicht bereits geschehen ist).
Die therapeutischen Maßnahmen werden unter Berücksichtigung der Ursache der Störung sowie deren Schweregrades geplant; etwaige Grund- bzw. Begleiterkrankungen werden bei der Therapieplanung ebenfalls berücksichtigt. Das Hauptziel der logopädischen Behandlung stellt dabei die Verbesserung der Verständlichkeit sowie die Erhaltung bzw. Wiedererlangung der selbstständigen Kommunikationsfähigkeit dar.
Die logopädische Behandlung erfolgt in Bezug auf sog. „körperliche Funktionssysteme“, die jeweils in wechselseitigen Beziehungen zueinander stehen, d.h. diese beeinflussen sich gegenseitig im positiven wie auch im negativen Sinne.
Die Therapiebereiche im Falle des Vorliegens einer Dysarthrie umfassen u.a.:
- die Stabilisierung der Haltung und des Spannungszustandes der gesamtkörperlichen Muskulatur
- die Förderung der (Eigen-)Wahrnehmung
- das Training der Koordination von Atmung, Stimmgebung und Sprechvorgang
- die Förderung der „entspannten“ Stimmgebung
- das „Verdeutlichen“ der Aussprache
Abhängig vom Dysarthrie-verursachenden Ereignis (Krankheit, Hirnschädigung etc.) und dessen Auswirkungen auf den Betroffenen wandeln sich auch die Therapieziele; die nachfolgende Auflistung soll dies verdeutlichen:
- im Falle von „leichten“ Dysarthrien (z.B. in Folge eines Schlaganfalles)
- Das Behandlungsziel besteht in der Wiederherstellung einer dem Ursprungszustand ähnelnden Kommunikationsfähigkeit des Betroffenen (sofern möglich).
- im Falle von „mittelschweren“ Dysarthrien (z.B. als Folge einer fortschreitenden Erkrankung)
- Die Behandlung umfasst die Mobilisierung bzw. Nutzung der noch bestehenden sprachlichen Fähigkeiten sowie die Erarbeitung möglicher Kompensationsmaßnahmen (z.B. die Nutzung von Mimik und Gestik sowie vorgefertigter Wort- und Dialogkarten).
- im Falle von „schwergradigen“ Dysarthrien (z.B. als Resultat einer schwerwiegenden Hirnschädigung)
- Sollte eine Kompensation der kommunikativen Fähigkeiten des Betroffenen nicht mehr im Bereich des Möglichen liegen, können unter Umständen alternative Kommunikationssysteme (z.B. Sprachcomputer) zum Einsatz kommen.
- Beteiligen Sie sich bzw. Sie sich mit Ihrem/r Angehörigen weiterhin (entsprechend Ihrer Möglichkeiten) am sozialen Leben und bemühen Sie sich um einen möglichst „offenen“ Umgang mit der Problematik, um so gegenseitiges Verständnis für die Situation zu fördern.
- Nehmen Sie sich Zeit beim Sprechen oder bitten Sie ggf. um etwas Geduld bei Ihrem Gesprächspartner.
- Wenn Sie (als Betroffene/r) Schwierigkeiten damit haben, sich zu artikulieren, können auch Mimik und Gestik weiterhelfen.
- Erstellen Sie bzw. lassen Sie sich von Ihren Angehörigen kurze „Dialogkarten“ mit den gängigsten Äußerungen, kurzen Wortgruppen oder Sätzen erstellen und zeigen Sie diese ggf. im Alltag vor.